Rassismus & Faschismus

[TXT] Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?


„Nach der subjektiven Seite, in der Psyche der Menschen, steigerte der Nationalsozialismus den kollektiven Narzißmus, schlicht gesagt: die nationale Eitelkeit ins Ungemessene. Die narzißtischen Triebregungen der Einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die doch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst so viel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen.

Dieser kollektive Narzißmus ist durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt worden. Seine Schädigung ereignete sich im Bereich der bloßen Tatsächlichkeit, ohne daß die Einzelnen sie sich bewußt gemacht hätten und dadurch mit ihr fertig geworden wären. Das ist der sozialpsychologisch zutreffende Sinn der Rede von der unbewältigten Vergangenheit. Auch jene Panik blieb aus, die nach Freuds Theorie aus >Massenpsychologie und Ich-Analyse< dort sich einstellt, wo kollektive Identifikationen zerbrechen. Schlägt man nicht die Weisung des großen Psychologen in den Wind, so läßt das nur eine Folgerung offen: daß insgeheim, unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene Identifikationen und der kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden, sondern fortbestehen.

Die Niederlage hat man innerlich so wenig ganz ratifiziert wie nach 1918. Noch angesichts der offenbaren Katastrophe hat das durch Hitler integrierte Kollektiv zusammengehalten und an schimärische Hoffnungen wie jene Geheimwaffen sich geklammert, die doch in Wahrheit die anderen besaßen. Sozialpsychologisch wäre daran die Erwartung anzuschließen, daß der beschädigte kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzißtischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, daß jene Schädigung ungeschehen gemacht wird.

Bis zu einem gewissen Grad hat der wirtschaftliche Aufschwung, das Bewußtsein des Wie tüchtig wir sind, das geleistet. Aber ich bezweifle, ob das sogenannte Wirtschaftswunder, an dem alle zwar partizipieren, über das aber zugleich alle auch etwas hämisch reden, sozialpsychologisch wirklich so tief reicht, wie man in Zeiten relativer Stabilität denken könnte. Gerade weil der Hunger auf ganzen Kontinenten fortwährt, obwohl er technisch abgeschaft werden könnte, vermag keiner so recht am Wohlstand sich zu freuen. Wie individuell, etwa in Filmen, wenn einer es sich gut schmecken läßt und die Serviette in den Kragen steckt, mißgünstig gelacht wird, so gönnt die Menschheit ein Behagen sich selber nicht, dem sie zutiefst anmerkt, daß es stets noch mit Mangel bezahlt wird; Ressentiment trifft jedes Glück, auch das eigene. Sattheit ist zu einem Schimpfwort a priori geworden, während an ihr schlecht doch nur wäre, daß es solche gibt, die nichts zu essen haben; der angebliche Idealismus, der gerade im heutigen Deutschland so pharisäisch über den angeblichen Materialismus sich hermacht, verdankt vielfach, was er für seine Tiefe hält, nur verdrückten Instinkten.

Haß aufs Behagen zeitigt in Deutschland Unbehagen am Wohlstand, und ihm verklärt sich die Vergangenheit zur Tragik. Jenes malaise kommt aber keineswegs bloß aus trüben Quellen sondern auch selber wiederum aus viel rationaleren. Der Wohlstand ist einer von Konjunktur, niemand traut seiner unbegrenzten Dauer. Tröstet man sich damit, daß Ereignisse wie die des Schwarzen Freitags von 1929 und die daran anschließende Wirtschaftskrise sich kaum wiederholen könnten, so steckt darin bereits implizit das Vertrauen auf eine starke Staatsmacht, von der man sich Schutz auch dann verspricht, wenn die ökonomische und politische Freiheit nicht funktioniert. Noch inmitten der Prosperität, selbst während des temporären Mangels an Arbeitskräften fühlt insgeheim wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen sich als potentielle Arbeitslose, Empfänger von Wohltaten und eben damit erst recht als Objekte, nicht als Subjekte der Gesellschaft: das ist der überaus legitime und vernünftige Grund ihres Mißbehagens. Daß es im gegebenen Augenblick nach rückwärts gestaut und für die Erneuerung des Unheils mißbraucht werden kann, ist offenbar.“ (Weiterlesen: https://signale.cornell.edu/text/was-bedeutet-aufarbeitung-der-vergangenheit)

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